Moralismus & die Ethik des Sprechens über Moral

Illustrator: Wilhelm Busch

Einer immer wieder anzutreffenden Einschätzung zufolge zeichne sich unsere Zeit durch zunehmenden Moralismus in öffentlichen Diskursen und im zwischenmenschlichen Miteinerander sowie einer Tendenz zur Moralisierung der Lebenswelt aus. Dieses Projekt untersucht, was damit eigentlich gemeint sein könnte und wie es normativ zu beurteilen, wenn diese Einschätzung zuträfe: Was (und wie schlimm) ist Moralismus? Leitend ist dabei die Perspektive, Moralismus als moralisch defizitäre Form des Sprechens und Deliberierens über Moral zu verstehen.

In Auseinandersetzung mit sprachwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung zu Moralisierung geht das Projekt in jüngerer Zeit auch der Hypothese nach, dass die bisherige moralphilosophische Perspektive auf Moralismus durch ein von interpersonaler moralischer Kritik und Vorwürfen geprägtes Paradigma verengt ist, welches die kollektive Dimension von Moralisierungsprozessen in Diskursen, im politischen Raum und in gesellschaftlichen Praktiken (wie der Wissenschaft) nicht angemessen erfasst. Das Projekt soll daher auch die eigenen bisherigen Arbeiten zum Thema in dieser Hinsicht erweitern und kollektive Moralisierung als ein eigenständiges Phänomen begrifflich und ethisch genauer untersuchen: Worin besteht kollektive Moralisierung (von Diskursen oder in der Wissenschaft) und wie ist sie moralisch zu beurteilen?

Dabei wird auch zu fragen sein, ob bisherige Analysen, in denen die Verletzung von Autonomie- und Freiheitsspielräumen eine zentrale Rolle spielte, aufrechterhalten werden können. Eine Arbeitshypothese ist, dass man die Moralisierung öffentlicher Diskurse als ein emergentes Phänomen verstehen kann, nämlich als eine sich erst auf der kollektiven Ebene des Diskurses manifestierende moralische Verzerrung der argumentativen Landschaft (argumentationstheoretisch expliziert als dialektische Struktur, die den rationalen Kern eines Diskurses erfasst). Diese Entscheinungsform des (kollektiven) Moralismus kann als moralisch defizitäre Form des kollektiven Sprechens und Deliberierens über Moral verstanden werden. Daraus erwachsen Perspektiven für weitere empirische und moralphilosophische Untersuchungen, die zur interdisziplinären Verständnigung zwischen (moral-)philosophischen und empirischen Zugängen und zur Ethik kollektiver Handlungsprobleme in Diskursen beitragen können.